Modell zur Entstehung und Behandlung von Traumafolgestörungen:


Wie so oft gibt es mehrere Erklärungsmöglichkeiten. Das ganze Gebiet ist zu Komplex, als dass jemand guten Gewissens behaupten könnte, sie oder er hätte es vollständig verstanden.  Die folgenden Überlegungen haben mir sehr dabei geholfen besser zu verstehen warum Traumatherapie andere Strategien benötigt als übliche Psychotherapieverfahren. Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass dieses Erklärungsmodell keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder Wissenschaftlichkeit hat, es ist eher wie ein Kochrezept für den Hausgebrauch zu verstehen, bei dessen Zusammenstellung es dem Profikoch möglicherweise grausen würde. Aber mir geht es in erster Linie darum, ein Modell vorzustellen, das verständlich macht, wie und warum Traumatherapie funktionieren könnte und weshalb bestimmte Techniken, die sich von herkömmlichen Psychotherapiestrategien unterscheiden, zum Einsatz kommen sollten.

Beginnen wir mit unserem Gedächtnis, da dieses für das Verständnis von Traumafolgestörungen entscheidend ist. Es gibt verschiedene Arten unser Gedächtnis zu unterteilen. Ich beschränke mich im Folgenden auf den Teil, den man als biographisches Gedächtnis bezeichnet und den Teil, den ich Notfallgedächtnis nennen möchte. Beide gehören zu unterschiedlichen Bereichen unserer Persönlichkeit und sind wahrscheinlich zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Entwicklung unserer Art entstanden. 

  • Das biographische Gedächtnis ist nötig, damit wir uns als eine eigenständige Person mit einer eigenen Geschichte empfinden können. Es kann von uns aktiv aufgerufen werden und ist mit dem Gefühl untrennbar verknüpft, dass das, woran wir uns erinnern, vergangen ist.
  • das Notfallgedächtnis gehört zu unserem Notfallsystem, das man sich wie einen inneren Sicherheitsdienst vorstellen kann, der ständig überwacht, was in unserer Umgebung geschieht, beim kleinsten Anzeichen von Gefahr Alarm schlägt und uns in den Überlebensmodus - vorzugsweise Flucht oder Kampf- versetzt; es kann innerhalb kürzester Zeit aktiviert werden und kennt im Unterschied zum biographischen Gedächtnis keine zeitlichen Zusammenhänge, d.h. alles was darin abgespeichert ist und aktiviert wird, wird so erlebt als ob es gerade jetzt geschieht. Das Notfallgedächtnis wiederum hat zwei Teile: den einen bringen wir schon bei unserer Geburt mit, er enthält die für das Überleben unserer Art grundsätzlich wichtigen Gefahrenmomente - Raubtiere, Schlangen, Verlassenwerden u.v.m. - der andere Teil sammelt und speichert akribisch alle gefährlichen Erfahrungen, die wir in unserem Leben sammeln und bei denen es wichtig ist, dass wir sie nicht ein zweites Mal erleben - z.B. auf eine heiße Herdplatte langen, einen Tiger streicheln, etc. . 

Im „Normalzustand“ sind beide Gedächtnisformen so miteinander verbunden, dass das biographische Gedächtnis dabei hilft zu entscheiden, ob eine Situation wirklich gefährlich ist oder uns nur an eine gefährliche Situation erinnert, damit wir uns wieder beruhigen können. Das Notfallgedächtnis hilft uns, rechtzeitig reagieren zu können; das biographische Gedächtnis schaltet sich ein um zu überprüfen, ob wirkliche Gefahr vorliegt, denn das Notfallgedächtnis funktioniert nach dem Motto: lieber ein Alarm zu viel als der entscheidende zu wenig! Ebenso bleiben die Inhalte des Alarmgedächtnisses sinnvollerweise frisch, sozusagen tagesaktuell, und müssen nicht mühsam erinnert werden, während die Gedächtnisinhalte des biographischen Gedächtnisses mit der Zeit verblassen, wir können fühlen: das woran wir uns erinnern ist Vergangenheit. Auch das ist sinnvoll, denn nur so bekommt unser Leben eine innere zeitliche Richtung, die es möglich macht als Erwachsener sich anders zu fühlen als als Kind - obwohl das bei manchen unserer Artgenossen nicht unbedingt so wirken mag. Wenn Sie sich an Ihren ersten Schultag erinnern, so können Sie sich sicher sein, dass dieser nicht gerade jetzt stattfindet. Möglicherweise müssen Sie sich richtig anstrengen, um überhaupt noch eine Erinnerung zu aktivieren. Sie müssen bildlich gesprochen in Ihrem Archiv ein ganzes Stück gehen, um an das entsprechende Regal zu gelangen. Und dasspüren Sie in Ihrem Körper. Gehen Sie z.B. an einem Gebüsch vorbei und es raschelt, so wird es Ihnen wahrscheinlich plötzlich kalt den Rücken herunterlaufen, Ihr Herz wird rasen und Ihre Atmung kurz stocken: Ihr Notfallgedächtnis hat Gefahr gemeldet und sie werden einen Moment brauchen um festzustellen: es war nur ein Vogel! und sich wieder beruhigen. Das können Sie, weil Sie durch Ihr biographisches Gedächtnis über die Vorerfahrungen verfügen, die Ihnen die Sicherheit geben, dass dieser raschelnde Vogel ungefährlich ist.

Was passiert nun mit dem Gedächtnis, wenn wir unter starken Stress, wie er in einer lebensbedrohlichen Situation auftritt, geraten?

Das Problem mit unserem biographischen Gedächtnis ist, dass es sehr komplex ist und unter zunehmendem Stress immer schlechter funktioniert. Unsere Stresshormone sind richtige Zellgifte für die Zellen unseres Gehirns, die für die Einspeicherung neuer Gedächtnisinhalte zuständig sind. Das ist auch wahrscheinlich der Grund weshalb bei Depressionen, die in ca. 90% mit einem deutlich erhöhten Stresshormonspiegel einhergehen, häufig demenzartige Zustände auftreten (Erfreulicherweise können diese Zellen sich wieder regenerieren, sobald der Stresshormonspiegel sich wieder normalisiert).

Traumatisierende Erlebnisse sind Ereignisse, die unser Stressniveau innerhalb kürzester Zeit extrem anheben, so dass wir nur noch auf für das Überleben sinnvolle Handlungen konzentriert sind und alles, das hierfür nicht nötig ist, ausblenden, bzw. abschalten. Das biographische Gedächtnis wird im Notfall nicht benötigt, weil es sehr kompliziert ist und unnötige Ressourcen bindet. Da alles, was in diesem Moment geschieht bedrohlich ist wird es natürlich im Notfallgedächtnis genau registriert, um uns vor einer möglichen späteren Wiederholung zu schützen, aber es kann kein entsprechender Eintrag im biographischen Gedächtnis vorgenommen werden. Der Mechanismus, der uns im Moment der Gefahr hilft zu überleben, indem alle unsere Ressourcen für das Überleben aktiviert werden, hat langfristig den ungünstigen Effekt, dass wann immer unser Notfallgedächtnis durch an das Erlebnis erinnernde Auslöser aktiviert wird, wir über keine biographische Information verfügen, die die Situation abgleichen und uns wieder beruhigen kann. Wir verbleiben dadurch in einem Dauerzustand erhöhter Wachsamkeit und Stress. 

Übertragen auf das Beispiel des raschelnden Vogels im Gebüsch bedeutet dies: unser Notfallgedächtnis greift zunächst auf Informationen zurück, die unserer Art zu eigen sind und die Bedrohungserfahrungen unserer Vorfahren beinhalten. Diese Informationen haben wir genetisch vererbt bekommen. Unsere Art hätte kaum überleben können, wenn jede Generation aus Neue über Erfahrung die Gefahr von Raubtieren, Schlangen, etc. lernen müssen.

Wenn wir im dem Moment des Raschelns im Gebüsch aber auf keine eigenen Erinnerungen - z.B. das ist nur ein Vogel, der nicht gefährlich ist - zurückgreifen können, so steht uns nur die Information aus dem Notfallgedächtnis zur Verfügung, z.B. im Gebüsch ist ein Raubtier, das uns angreifen will, alle Systeme auf Flucht einstellen! Und sofort befindet sich unser Organismus in höchster Aktivierung mit all den körperlichen Zuständen, die für Flucht oder Kampf nötig sind: hoher Blutdruck, schneller Herzschlag, schnellere und tiefere Atmung, hohe Muskelspannung, aufgestelltes Fell - Gänsehaut - und Schwitzen - unser Kühlsystem, weite Pupillen - damit möglichst viel Licht einfallen kann.

Ein weitere wichtiger Aspekt, der die Entstehung einer posttraumatischen Belastungsstörung begünstigen kann, ist der Notfallmechanismus, der aktiviert wird, wenn wir uns nicht an einen hilfreichen Artgenossen wenden, fliehen oder kämpfen können. Dann greifen wir auf den Totstellreflex zurück. Bei diesem werden auf einen Schlag alle Körperfunktionen auf das absolut für das Weiterleben nötige Minimum reduziert. Die Atmung verlangsamt sich, Blutdruck und Herzfrequenz sinken und das Gehirn wird auf „Standby“ gestellt; es benötigt 25% unserer Energie und ist beim Ausharren nutzlos. Auch hier kann der Mechanismus, der hilft, die Überlebenschancen zu erhöhen zu langfristig ungünstigen Folgen führen, da durch das abschalten der höheren Gehirnfunktionen natürlich auch das biographische Gedächtnis keine Gedächtnisinhalte erzeugen kann, das Notfallgedächtnis aber natürlich aktiv war, denn es wäre unsinnig ein bedrohliches Ereignis nicht zu erinnern.


Ich hoffe, dass Sie bis hier alles verstanden haben, denn nun haben wir alle wichtigen Aspekte zusammen, die sowohl die Symptome als auch die Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung verständlich machen:


Wenn wir über keine biographische Abgleich- und damit Beruhigungsmöglichkeiten zu einem Belastungsereignis verfügen, können uns schon kleinste Auslöser - Gerüche, eine Farbe, ein Gefühl, ein Geräusch etc. - in höchste Alarmbereitschaft versetzen, aus der wir nur sehr schwer herauskommen können. Als Folge davon stehen wir ständig unter Stress und sind „auf dem Sprung“ d.h. im Flucht- oder Kampfmodus mit all den damit verbundenen körperlichen Konsequenzen: Kreislaufaktivierung, Atmungsvertiefung- und beschleunigung, Muskelanspannung, Schweißausbrüche etc. . Darüber hinaus versetzt uns das Notfallgedächtnis immer wieder in einen körperlichen Zustand, der uns so fühlen läßt, als ob das belastende Erlebnis sich gerade ereignen würde. D.h. wir fühlen uns wie in einem Film, der uns unwillkürlich überfällt und über den wir keinerlei Kontrolle haben. Zu allem Übel kann die Überaktivierung sich immer wieder so steigern, dass der Totstellreflex aktiviert wird und man sich in einem dumpfen Zustand der Isolation und Zeitlosigkeit wiederfindet, den die Fachleute Dissoziation nennen. Dieser kann so ausgeprägt sein, dass man sich plötzlich wie bei einem Nahtoderlebnis außerhalb des eigenen Körpers befindet.

Der durch die Symptomatik dauerhaft erhöhte Stresshormonspiegel wiederum beeinträchtigt Gedächtnis und Konzentration und begünstigt die Entstehung von Angststörungen und Depressionen.

Hinsichtlich der Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung wird damit verständlich, dass über das Erlebte zu reden, wie man es bei einer üblichen Psychotherapie versuchen würde, nicht erfolgreich sein kann, da der biographische Gedächtnisanteil fehlt, der dazu nötig ist, uns zu ermöglichen in der Gegenwart zu verbleiben und nicht automatisch in eine Wiederholung des Ereignisse zu geraten. In der Traumatherapie ist es das Ziel, die Lücke in unserem biographischen Gedächtnis so zu füllen, dass wir durch künftige Rückerinnerungen das Erlebnis nicht mehr wiedererleben, als ob es gerade eben wieder geschähe. Wir müssen sozusagen von Kopf bis Fuss begreifen, richtig körperlich spüren können: das Erlebte ist vergangen. Es nutzt nichts dem Betroffenen immer wieder zu erklären: das woran Du Dich gerade erinnerst ist doch vorbei! Vom Verstand her weiß das jeder, aber solange „es noch nicht im Körper“ angekommen, d.h. vom biographischen Gedächtnis archiviert worden ist, kommt es zu keiner Verbesserung.


Weiter mit: