Tiefenpsychologische Psychotherapie:

Als tiefenpsychologische Psychotherapie bezeichnen wir eine ganze Reihe von Behandlungsmethoden, die sich nach außen hin z.T. stark unterscheiden sind, aber hinsichtlich der Entstehung psychischer Beschwerdebilder alle von der gleichen Grundvorstellung ausgehen: unsere durchläuft Psyche parallel zu unserem Körper verschiedene Entwicklungs- bzw. Wachstumsphasen, durch die sich die für uns wichtigen psychische Funktionsbereiche entwicklen und herausbilden. Die wichtigsten dieser Bereich in der Reihenfolge ihres Entstehens sind:

  • Bindung: sich dauerhaft mit bestimmten Menschen verbunden fühlen
  • Autonomie – zunehmend sein eigenen Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten
  • Selbstwert – das eigene Dasein als wichtig und wertvoll erachten
  • Identität – sich einem bestimmten Geschlecht, einer bestimmten sozialen Gemeinschaft zugehörig fühlen und dem eigenen Leben eine Bedeutung geben.

Damit sich diese Bereiche gut entfalten können sind wir auf die Unterstützung unserer Umwelt angewiesen. Ist diese nur unvollständig vorhanden oder werden wir in unserer Entwicklung aktiv gehemmt, können diese Entwicklungsprozesse nicht so ausreifen, dass wir als Erwachsene zu jeder Zeit gut auf die Herausforderungen, die uns im Laufe unseres Lebens erwarten, gut reagieren können. So können durch entsprechende äußere Rahmenbedingungen oder Belastungen intensive innere Spannung entstehen, die sich in psychischen Symptomen – Depressionen, Ängsten, Schmerzen, psychosomatische Beschwerden bemerkbar machen. 


Das klingt zugegebenermaßen alles sehr theoretisch und kompliziert, ist es aber nicht. Ich möchte es Ihnen deshalb anhand eines Beispiels veranschaulichen: 

nehmen wir einmal an, ein Kind wird von seinen Eltern ständig kritisiert und entwertet, wenn es versucht, seine Umgebung zu erkunden und auszuprobieren, was es kann. Es bekommt immer wieder zu hören: "das ist gefährlich", "das kannst Du doch nicht, dafür bist Du doch noch viel zu klein", " das macht man nicht" etc. Auch wenn es in den anderen psychischen Erlebensbereichen gut gefördert wird, der Bereich, den wir Autonomie nennen, durch dessen Entfaltung wir nach und nach selbstständiger werden, neugierig das Leben erkunden und unsere Talente entdecken, bleibt wenig entwickelt. Er bleibt mit Angst, Unsicherheit und Scham verknüpft. Das Kind entwickelt sich nach außen hin unauffällig und ist möglicherweise ein Musterkind, da es sich anpaßt und wenig Probleme bereitet. So manch andere Eltern, die bei der Erziehung ihrer Kinder an den Rand ihrer Belastbarkeit geraten, würden wahrscheinlich neidisch sagen: "wenn unsere Kinder nur so brav und wohlerzogen wie dieses Kind wären!" Aber in sich bleibt dieses Kind unsicher, es hat wenig Zutrauen in seine eigenen Fähigkeiten und versucht sich deshalb immer stark daran zu orientieren, was von ihm erwartet wird. Das kann im Leben eine ganze Weile gut funktionieren, aber es kommt in jedem Lebenslauf unweigerlich zu Veränderungen und Krisen, für deren Bewältigung es wichtig ist, dass sich unsere psychischen Erlebensbereiche möglichst gut entwickelt haben. So könnte es für das Kind aus unserem Beispiel schon eine kaum zu bewältigende Herausforderung sein, sich für einen Beruf zu entscheiden. Den eigenen Impulsen kann es nur schwer vertrauen, da gibt es kaum positive Erfahrungen, sie sind mit den negativen Botschaften der Eltern zu sehr vermischt. Also wird es sich eher daran orientieren und sich dafür entscheiden, was von ihm erwartet wird, bzw. was den Eltern gefällt. Es wird eine Tätigkeit ausüben, die ihm möglicherweise gar nicht liegt, keinen Spaß macht und die deshalb anstrengend und wenig erfüllend ist. Stellen wir uns nun vor, an dieser Arbeitsstelle gibt es Probleme mit den Kollegen, die unseren Beispielpatienten beginnen auszugrenzen - dies vielleicht  sogar deshalb, weil er bei den Vorgesetzten aufgrund seiner angepaßten, unauffälligen und freundlichen Art sehr beliebt ist. Die Situation am Arbeitsplatz wir immer unerträglicher. Eine Person mit mehr Selbstsicherheit würde kündigen und sich eine neue Stelle suchen. Aber genau diese innere Sicherheit, das Vertrauen in seine Fähigkeiten fehlt ja. Also wird er bleiben und zunächst vielleicht sogar noch härter und besser arbeiten, auch versuchen die Kollegen durch Leistung und Freundlichkeit zu überzeugen, schließlich hat das bei den Eltern ja auch immer geklappt. Doch irgendwann wird er immer erschöpfter, er bekommt Schlafstörungen, das Aufstehen am morgen wird zur Qual, selbst am Wochenende drehen sich alle Gedanken nur um die Arbeit und nichts macht mehr Freude, er hat nicht einmal mehr Hunger. Schritt für Schritt hat sich eine Depression entwickelt. 

Aus tiefenpsychologischer Sicht würde man nun vermuten: hätte es im Bereich der Autonomie weniger Entwicklungshemnisse gegeben, wäre unser Beispielpatient erst gar nicht in diese Situation geraten. Er hätte vielleicht schon einen ganz anderen Beruf ergriffen, in dem er sich sicherer Gefühlt hätte und selbst wenn es dort zu Konflikten gekommen wäre, hätte er sich dabei besser abgrenzen und behaupten können, bzw. wenn er keine andere Lösung gesehen hätte, mit einer gesunden Wut im Bauch sich eine andere Stelle gesucht, da er tief in sich die Gewissheit gehabt hätte: ich weiß, was ich kann und werde immer etwas finden. 

Genau hier kommt die tiefenpsychologische Psychotherapie ins Spiel: 

Zunächst ist es wichtig, sich die Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen und mit den eigenen inneren Vorgängen bewußt zu machen und ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie diese entstanden sind -im Beispiel die negativen Botschaften aus der Kindheit -, dass die Probleme zwar durch andere ausgelöst werden - im Beispiel die Arbeitskollegen - aber nur deshalb so dramatische Folgen haben, da sie auf ein ungünstiges inneres Erlebensmuster treffen - im Beispiel die fehlende Selbstsicherheit - und uns so fühlen lassen, als ob wir wieder in die Kindheit zurückversetzt worden wären. Sobald das klar geworden ist, kann man nun damit beginnen, diese inneren Erlebensmuster zu bearbeiten und zu verändern. Dafür ist es wichtig, dass sich Schwierigkeiten in der Bewältigung von Konflikten zumeist dadurch bemerkbar machen, dass wir bestimmten Gefühlen ausweichen versuchen, da wir glauben sie bzw. deren phantasierte Folgen nicht ertragen zu können. So wie unser Beispielpatient wahrscheinlich um jeden Preis versucht, seine Angst vor den Reaktionen anderer auf sein Verhalten und die Scham, die er als Kind empfunden hatte, wenn er heftig getadelt wurde, nicht zu spüren. An die Stelle der Eltern sind mittlerweile Partner, Freunde, Vorgesetzte oder Kollegen getreten. In der Therapie ist es nun wichtig zu erkennen, dass sich diese Grunderfahrung aus der Kindheit bis ins Erwachsenenalter fortsetzt und es wird daran gearbeitet den unterdrückten Gefühlen und Impulsen Ausdruck zu verleihen, so dass diese Schritt für Schritt selbstverständlichere Bestandteile unserer Erlebenswelt werden und wir beginnen in unserem Erwachsenenleben neue und flexiblere Möglichkeiten des Umgangs mit unserer Umwelt zu entwickeln. Für unseren Beispielpatienten würde dies bedeuten: zu lernen wütend und ärgerlich sein zu dürfen, eigene Wünsche und Impulse ernst nehmen und verfolgen und festzustellen, dass die Welt nicht untergeht, wenn er einmal nicht versucht, den anderen zu gefallen, sondern sich traut, unabhängig und unangepaßt zu sein. Wenn man so möchte wird daran gearbeitet, dass aus dem "Kind", das er hinsichtlich seiner Selbstsicherheit geblieben ist, ein "Erwachsener" wird, der mehr Alternativen hat als sich anzupassen und zu ducken.

Tiefenpsychologische Psychotherapie ist zumeist eine Gesprächstherapie, bei der die den Beschwerden zugrundeliegenden inneren Vorgänge erkundet werden. Aber die Sprache allein ist oft zu abstrakt um das was in uns geschieht wahrnehmen und mitteilen zu können. Da sehr viel auf der Ebene der Gefühle geschieht und diese untrennbar mit unserem Körper verbunden sind, ist es sehr hilfreich nicht nur über innere Vorgänge zu sprechen, sondern dies in der Behandlung direkt erlebbar zu machen. Hierfür gibt es viele unterschiedliche Zugangsmöglichgkeiten. Es gibt z.B. körperorientierte Psychotherapieverfahren wie Kunsttherapie, Tanztherapie oder die konzentrative Bewegungstherapie, die sich besonders auf kreative nichtsprachlich Ausdrucksformen und/oder das Körpererleben konzentrieren und bei denen die Sprache nur eine untergeordnete Rolle spielt.